Die letzte Prüfung - 2. Kapitel

 

Tragisches Ende einer Abhängigkeit

Am vergangenen Samstagmorgen wurde in einem Hinterhof in der Nähe der Marienkirche der leblose Körper eines jungen Mannes gefunden. Polizeiberichten zufolge wurden bei seiner Leiche keinerlei Ausweise oder sonstige Hinweise auf seine Identität gefunden. Zahlreiche äußerliche Merkmale deuten auf eine exzessive Drogenabhängigkeit hin. Bisher wurde keine Vermisstenanzeige erstattet, die auf sein Profil zutrifft. Die Kriminalpolizei geht aufgrund der bisherigen Erkenntnisse davon aus, dass der Tod auf eine Überdosis der verheerenden Kultdroge Crystal Meth zurückzuführen ist. Die Polizei  Stuttgart ruft Zeugen oder Personen mit Hinweisen dazu auf, sich mit ihr in Verbindung zu setzen.

 

Lukas Schwartz wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und blickte von dem eineinhalb Jahre alten Zeitungsartikel auf die beiden Kerzen, die vor seinem Wohnzimmerfenster heftig zu flackern begonnen hatten, sich aber kurz darauf wieder beruhigten. Er hatte diese Kerzen für seine verstorbenen Eltern angezündet und fragte sich jetzt, ob er nicht doch eine dritte Kerze dazustellen sollte. Für Valentin, seinen drogensüchtigen Bruder, der vielleicht, genau wie der nicht identifizierte Junkie aus dem Zeitungsbericht, nicht mehr am Leben war.

Seit achtzehn Monaten hoffte Lukas auf ein Lebenszeichen seines kleinen Bruders, erhielt aber keins. Kein Wunder, ihre Wege hatten sich nach einem heftigen Streit getrennt. Seitdem sammelte er Zeitungsberichte über Drogentote, verfolgte jede Spur, die ihn zu Valentin führen könnte, und ständig rechnete er damit, seinen Bruder in einer Leichenhalle oder tot in der Gosse wiederzufinden. Todesursache: der goldene Schuss.

Mittlerweile zählte er über dreißig kürzere und längere Berichte, die er gesammelt hatte, aber nicht jeder Todesfall, der auf Drogen zurückzuführen war, schaffte es in die Zeitung. Alleine in Baden-Württemberg waren im vergangenen Jahr über einhundertzwanzig Menschen wegen Drogenkonsums verstorben. Tendenz steigend. Von den dreißig, die es in die Zeitung geschafft hatten, hatte Lukas die Namen herausfinden und den Berichten zuordnen können.

Lukas ging davon aus, dass sein Bruder keinen Platz in der Statistik der über hundert Drogentoten gefunden hatte, aber mit Sicherheit sagen konnte er es nicht. Erneut dachte er darüber nach, eine Kerze für Valentin zu entzünden, ließ es dann aber sein, weil er die Flamme der Hoffnung, die er in sich trug, nicht erlöschen lassen wollte.

Er blätterte in seinem Ordner, in dem er wichtige oder selbst verfasste Artikel aufbewahrte, ein paar Seiten zurück und stieß auf eine weitere Schlagzeile, die ihn daran erinnerte, dass das Schicksal mitunter äußerst brutal zuschlagen kann.

Ehepaar schlittert in den Tod.

Den Rest des Artikels brauchte er nicht zu lesen, er kannte ihn auswendig.

Vor zwölf Jahren, in der Nacht des ersten Novembers, waren seine Eltern in ihrem Porsche tödlich verunglückt. Sie hinterließen zwei Söhne, der eine achtzehn, der andere vierzehn Jahre alt. Ihr Wagen hatte auf der regennassen Fahrbahn in einer Kurve die Bodenhaftung verloren, das Geländer einer Autobahnbrücke durchbrochen und war zwanzig Meter in die Tiefe gestürzt. Von seinen Eltern war nicht viel übrig geblieben, und die letzte Erinnerung, die Lukas an sie hatte, waren ihre toten, vom Unfall gezeichneten Gesichter, als er sie im Leichenschauhaus identifizieren musste.

Beim Gedanken daran begann Lukas zu frösteln. Aber vielleicht lag es auch nur an der kalten Luft, die durch das Kippfenster hinter ihm hereinströmte und ihm in den Nacken zog. Er stand auf und schloss das Fenster. Anschließend nahm er das leere Weinglas vom Wohnzimmertisch und ging leicht schwankend in die Küche, um es wieder aufzufüllen.

Doch bevor er die zweite Weinflasche dieses Abends öffnen konnte, spürte er ein Vibrieren in seiner Hosentasche, wunderte sich kurz, doch dann fiel ihm ein, dass es nur sein Handy sein konnte. Er zog es heraus und meldete sich. »Lukas Schwartz.«

»Hallo, Lukas, hier spricht Pfarrer Hannes Warth. Erinnerst du dich noch an mich?«, kam eine Stimme aus dem Hörer, an die Lukas sich sehr gut erinnerte. Allerdings war er derart überrascht, dass er vollkommen vergaß zu antworten.

»Hörst du mich, Lukas?«, fragte der Pfarrer.

»Ja, ich höre dich sehr gut, Hannes. Was willst du?« Lukas wurde bewusst, dass er ein wenig lallte. Vermutlich wäre es doch besser gewesen, die Flasche Rotwein nicht auf einmal leer zu trinken. Er schüttelte den Kopf, um ihn einigermaßen freizubekommen.

»Ähm, ist alles in Ordnung mit dir? Störe ich gerade?«

»Nein, nein, alles bestens«, sagte Lukas. »Ich bin nur etwas, na ja, verwundert, dass du mich anrufst. Ich habe lange nichts von dir gehört.«

»Das stimmt, ungefähr eineinhalb Jahre?«

Seit ich ihm ein paar echt üble Dinge an den Kopf geworfen habe, dachte Lukas und sagte: »Ja, das könnte hinkommen. Ehrlich gesagt hätte ich nicht erwartet, jemals wieder von dir zu hören.«

»Ich habe auch gründlich darüber nachgedacht, ob ich dich anrufen soll, und bin zu dem Schluss gekommen, dass unsere Freundschaft nicht länger unter diesem überflüssigen Streit leiden sollte«, sagte Hannes. »Wollen wir wieder Frieden schließen?«

Darüber brauchte Lukas nicht lange nachzudenken, er hatte schon zu viele wertvolle Menschen verloren, dieses Friedensangebot konnte er unmöglich zurückweisen. »Ja, das ist eine gute Idee, Hannes. Es tut mir leid, was ich alles zu dir gesagt habe. Du wolltest ja nur helfen, nachdem ich mich mit Valentin zerstritten hatte. Und ja, ich weiß mittlerweile auch, dass ich vieles falsch gemacht habe.« Er fragte sich, warum er das so plötzlich einfach zugeben konnte, aber dann fiel sein Blick auf die leere Weinflasche. Die erklärte alles.

»Nur leider bringt mir das meinen Bruder nicht zurück«, fügte er hinzu.

»Dann hast du in letzter Zeit also nichts von Valentin gehört?«

»Nein, leider nicht. Du vielleicht?«

»Nein, aber wegen Valentin rufe ich auch gar nicht an.«

»Okay, worum geht es dann?«

»Nun, ich weiß jetzt nicht, wie ich anfangen soll. Die Sache ist, nun ja, ein bisschen seltsam«, stammelte der Pfarrer herum.

Lukas bemerkte, wie ihm schwindelig wurde. Rasch setzte er sich auf die Couch im Wohnzimmer und wartete, ob Hannes noch etwas hinzufügen würde. Weil er das nicht tat, forderte Lukas ihn dazu auf, deutlicher zu werden.

»Du hast mir mal gesagt, dass du an merkwürdigen Geschichten interessiert bist«, sagte Hannes.

Das stimmte. Er hatte in seiner Laufbahn als Journalist schon so manche Dinge ans Licht gebracht, die im Verborgenen hätten bleiben sollen. An so etwas war er immer interessiert, zumal er seit Monaten in seinem Job auf der Stelle trat. »Und du hättest da so eine Geschichte für mich?«

»Ja, vielleicht hätte ich da etwas. Es ist tatsächlich etwas seltsam und auch ein wenig persönlich, weil es um dieses Reintegrationsheim geht, für das du dich vor zwei Jahren interessiert hattest.«

Lukas erinnerte sich an dieses Heim für ehemalige Drogensüchtige, das im südlichen Schwarzwald oberhalb jenes Dorfes lag, in dem Hannes Warth sein Amt als katholischer Pfarrer ausübte. Eine sehr spärlich besiedelte Gegend, wo es kaum etwas gab, außer Bäumen, Hügel und überall verstreute Holzhütten.

Vor zwei Jahren war Lukas dort gewesen, um sich dieses Heim genauer anzuschauen, weil er darüber nachgedacht hatte, seinen Bruder dorthin einweisen zu lassen. Bei der Gelegenheit hatte er Pfarrer Hannes Warth kennengelernt, der sich für diese Einrichtung positiv ausgesprochen hatte. Aus der Bekanntschaft war so etwas wie Freundschaft geworden. Vielleicht auch deshalb, weil der Pfarrer ihn sofort an seinen verstorbenen Vater erinnert hatte.

»Und was ist mit dem Heim?«, fragte Lukas.

»Ich weiß nicht so genau, aber ich denke, irgendetwas stimmt da nicht. Letzte Nacht stand plötzlich eine junge Frau vor meiner Tür«, antwortete Hannes. »Zuerst dachte ich ja, das ist eben so eine, die leicht durcheinandergeraten ist. Du weißt schon, wegen der Drogen. Aber irgendwas war da in ihrem Blick, das mir zu denken gab. Na, wie auch immer. Sie stand im strömenden Regen, mitten in der Nacht vor meiner Tür und bat mich um Hilfe.« Er machte eine kurze Pause, vielleicht, um sich zu sammeln. Dann fuhr er fort. »Sie sagte, Kevin sei entführt worden. Wahrscheinlich ihr Freund, auch jemand vom Heim. Ich hätte ihr gerne geholfen, aber dann haben die Leute vom Heim sie aufgegriffen und mitgenommen. Heute früh habe ich mich nach ihr erkundigt. Der Heimleiter persönlich hat mir versichert, dass so eine Ruhestörung in Zukunft nicht mehr vorkäme. Und der jungen Frau gehe es bestens. Sie sei jetzt wieder unter Kontrolle. Ihr Name ist übrigens Lena. Lena Wieland.«

»Okay. Diese Lena hat also behauptet, ihr Freund sei entführt worden?«

»Ja genau.«

»Und warum hast du die Polizei nicht verständigt?«

»Habe ich mir auch überlegt«, sagte Hannes. »Aber was, wenn ich die junge Dame damit in noch größere Schwierigkeiten bringe? Sie hätte auch direkt zur Polizei laufen können. Aber nein, sie hat an meine Tür geklopft. Oder besser gesagt, sie hat mich aus dem Schlaf geklingelt. Außerdem ist da noch dieser Unfall, um den sich die Polizei nicht wirklich gekümmert hat. Im Grunde kümmern die sich gar nicht um dieses Heim. Keiner tut das.«

»Moment, mal. Ein Unfall?« Lukas‘ Neugier wuchs. »Was für ein Unfall?«

»Vor ungefähr vier Wochen wurde ein junger Mann aus einem Gebirgsbach gefischt. Er war tot.«

»Und er war aus dem Heim? Ein Junkie?«

»Wenn du ihn unbedingt so nennen musst.« Hannes seufzte tief. »Es hieß, er wäre davongelaufen und dabei abgestürzt. Der Bach fließt durch eine tiefe Schlucht, musst du wissen.«

Lukas schwankte zwischen Interesse und Ablehnung und dachte darüber nach. Ein Toter und eine Entführung. Nun, jedenfalls eine vermeintliche Entführung. Möglicherweise hatte diese Lena zuvor Drogen konsumiert. Doch kaum hatte Lukas diesen Gedanken zu Ende gebracht, schämte er sich auch schon dafür. Genau wegen solcher Vorurteile war die Beziehung zu seinem Bruder zerbrochen.

»Lukas?«, fragte Hannes.

»Ja?«

»Was hältst du von der Sache?«

»Hört sich nicht uninteressant an. Aber wie stellst du dir das vor, wie ich in dieses Heim reinkomme, um mich dort ein wenig umsehen zu können?«

 »Ich kenne einen Psychologen, er ist ein alter Freund von mir. Der könnte dich schnell dort unterbringen. Wenn ich ihm sage, dass du ganz dringend in dem Heim dort einen Platz brauchst, erledigt er das für mich. Du müsstest nur kurz mit ihm reden und ihm glaubhaft machen, dass du den Platz unbedingt brauchst.«

Lukas unterdrückte ein Seufzen. Wie sollte er einem Psychologen weiß machen, dass er ein Drogenproblem hatte. Ausgerechnet er, der nichts mehr verabscheute als Drogen.

»Also ich weiß nicht so recht«, sagte er unentschlossen.

»Du musst dich ja nicht sofort entscheiden«, erwiderte Hannes. »Du kannst gerne eine Nacht drüber schlafen und mir dann Bescheid geben. Aber mehr Zeit haben wir nicht, fürchte ich.«

Lukas dachte über den Vorschlag nach, was ihm mit dem Alkohol im Kopf schwerfiel. »Ja, ich schlafe drüber und melde mich morgen.«

»Gut. Bis morgen.«

Hannes Warth legte auf und ließ Lukas mit einem Gefühl zurück, das er schon eine Weile nicht mehr verspürt hatte. Da war dieses Kribbeln in seinem Bauch, diese leichte Erregung, die ihn immer dann befiel, wenn er eine gute Story witterte. Allerdings wusste er noch nicht, ob er sich tatsächlich darauf einlassen sollte.