Die letzte Prüfung - 1. Kapitel

Es wurde still, trügerisch still. Wo zuvor noch gedämpfte Schreie und Kampfgeräusche die Nacht durchdrungen hatten, herrschte jetzt nur noch Stille. Jedenfalls solange, bis das Quietschen schlecht geölter Scharniere sie wieder durchschnitt.

Lena erstarrte.

Doch sie musste fliehen, und zwar schnell, aber noch schienen ihre Füße in dem vom Regen aufgeweichten Waldboden immer weiter zu versinken. Zwei Fenster im oberen Stockwerk des Hauses leuchteten auf und starrten sie aus der Dunkelheit heraus an wie die Augen eines bösartigen Gespensts. In der Mitte darunter entstand ein senkrechter Strahl Licht, der die Finsternis durchdrang, um gleich darauf wieder zu verschwinden.

Sie kommen!

Lena strich sich die nassen Haare aus dem Gesicht, spannte ihre Muskeln und schaffte es tatsächlich, sich in Bewegung zu setzen. Sie rannte los, weg von dem Haus, und kämpfte gegen die Versuchung an, zurückzublicken.

Nur weg!

Hinter ihr heulte ein Motor auf, gleich darauf erklang das platschende Geräusch von Reifen auf dem verregneten Asphalt. Angst kroch durch Lena hindurch, die sie dazu zwang, schneller zu rennen. Irgendwo da vorne war eine Art Treppe, die an den teils steilen Stufen eines Bergbachs entlangführte. Dieser Fluchtweg war ihre einzige Chance. Sie riskierte einen kurzen Blick über die Schulter und sah, wie zwei Lichtkegel die Dunkelheit hinter ihr zerschnitten.

Schneller!

Sie rannte, als wäre der leibhaftige Teufel hinter ihr her, und verpasste prompt die rettende Treppe. Abrupt blieb sie stehen, drehte sich um und lief zurück. Jetzt kamen ihr die Scheinwerfer entgegen. Sie waren nicht mehr weit entfernt, aber noch nicht nahe genug, um Lena erfassen zu können. Sie bog ab und hastete die steilen Stufen hinunter. Beinahe euphorisch klammerte sie sich an den winzigen Funken Hoffnung, es tatsächlich zu schaffen und dieser Hölle zu entkommen.

Ihre Schritte wurden immer schneller und schneller. Zu schnell. Sie konnte ihre Beine nicht mehr kontrollieren, der Abstieg war viel zu steil und die Steinplatten von Regen und Schlamm überschwemmt. Lena geriet ins Rutschen und erwischte gerade noch so das hölzerne Geländer am Wegesrand, an das sie sich klammerte, um nicht vollends den Halt zu verlieren. Hastig rappelte sie sich auf und viele Stufen und Atemzüge später erreichte sie die halb zerfallene Mühle oberhalb des Dorfes. Hier könnte sie sich verstecken und abwarten, bis die Luft rein wäre. Oder, und der Gedanke gefiel ihr noch besser, sie könnte ins Dorf laufen und dort Hilfe suchen.

 Der Ort lag nahezu im Dunkeln. Nur däusHHHHäuhhhhhHHHhhhhhWenSchwaDieie wenigen Straßenlampen warfen helle Flecken auf den Asphalt. Die Häuser dahinter schienen sich zu verstecken, als wollten sie verhindern, von Lena entdeckt zu werden. Nur hinter dem schmutzigen Fenster des kleinen Hauses an der nächsten Straßenecke brannte Licht. Lena ging darauf zu und stellte fest, dass es sich um ein Gasthaus handelte. Oder eher eine heruntergekommene Spelunke.

Ein eiskalter Schauer rieselte über Lenas Rücken, als ihr wieder die Bilder von vorhin in den Sinn kamen. Zum Glück verblasste die Szene sofort wieder, als die Tür der Kneipe aufging und zwei torkelnde Gestalten in die Nacht entließ. Sie lallten und lachten, verstummten jedoch sofort, sobald sie Lena bemerkt hatten. Einer der Männer grinste mit einem verklärten Blick, der andere legte die Stirn in tiefe Falten. Im Türrahmen der Kneipe stand ein dritter Mann, bärtig und sicherlich noch älter als die beiden Betrunkenen. Er warf Lena einen angewiderten Blick zu, zögerte einen Moment, doch dann zog er sich ins Innere des Wirtshauses zurück und schloss die Tür. Von ihm brauchte sie keine Hilfe zu erwarten. Auch nicht von den beiden anderen Männern, die bereits ihren Weg die Straße entlang fortgesetzt hatten, laut singend und lachend.

Lena hörte einen Motor, der deutlich lauter wurde, und setzte sich wieder in Bewegung. Mit heftig pochendem Herzen rannte sie ein Stück die Hauptstraße entlang und bog dann in eine schmale Gasse ein. Nachdem sie deren Ende erreicht hatte, entdeckte sie den Kirchturm, der keine dreißig Meter von ihr entfernt aufragte. Das Kreuz auf dem spitzen Dach zeigte in den wolkenverhangenen Nachthimmel. Das war kein Zufall, dass sie ausgerechnet hier gelandet war. Warum war sie nicht gleich darauf gekommen? Der Pfarrer würde ihr möglicherweise helfen. Wenn nicht er, wer dann?

Sie lauschte in die Dunkelheit. Kein Motor zu hören. Stattdessen herrschte eine beinahe greifbare Stille. Die Luft war so feucht und kalt, dass Lena ihren eigenen Atem sehen konnte, der sich in der Kälte zu weißen Wölkchen materialisierte, um sich sofort wieder in Luft aufzulösen. Ihr Blick fiel wieder auf den Kirchturm, dann fasste sie sich ein Herz und marschierte zielstrebig auf das Pfarrhaus zu, das direkt neben der Kirche stand.

Obwohl im Haus kein einziges Licht brannte, drückte sie auf den Klingelknopf neben der Eingangstür und wartete. Nichts. Sie läutete noch einmal, dann noch einmal, aber erst nach dem fünften Läuten sah sie durch ein kleines Fenster neben dem Eingang, wie im Inneren des Hauses ein Licht anging. Kurz darauf wurde die Tür gerade soweit geöffnet, dass Lena nur die rechte Hälfte eines runden Gesichts sehen konnte. Trotzdem erkannte sie Pfarrer Warth sofort. Sie hatte ihn schon öfter während der Gottesdienste in der Kirche gesehen.

»Ja bitte?«, fragte er und musterte Lenas Gesicht ganz genau. Dann schien er beschlossen zu haben, dass von ihr keine Gefahr ausging, und machte die Tür ganz auf. »Junge Dame, was ist denn passiert? Kann ich Ihnen irgendwie helfen?« Er klang ernsthaft besorgt.

»Ja. Im Heim, diese Leute, sie ...«, stammelte sie herum und hasste sich dafür, dass sie es ausgerechnet jetzt nicht schaffte, einen ganzen Satz herauszubringen.

»Sie sind von dem Heim dort oben«?«, hakte der Pfarrer nach und runzelte die Stirn. »Ist dort etwas passiert?«

Wieder sah sie die furchtbaren Bilder vor sich, riss sich dann aber zusammen und versuchte, ihre Gedanken in sinnvolle Worte zu packen. »Kevin ist … weg. Er wurde entführt.«

Der Pfarrer sah sie zunächst etwas verstört an, doch dann schlich sich etwas wie Verständnis in seinen Blick. »Jemand wurde entführt und sein Name ist Kevin?«

Sie nickte. »Ja. Bitte … Sie müssen mir helfen. Und ihm.«

Pfarrer Warth streckte die Hand nach Lena aus. »Soll ich die Polizei anrufen?«

Lena dachte darüber nach, war sich aber nicht sicher, ob das gut war. Und es war ohnehin zu spät, überhaupt irgendwas für sie zu tun. Das wurde ihr bewusst, als sie das Dröhnen eines Motors hörte. Entsetzt blickte sie über ihre Schulter und sah zwei Scheinwerfer, die um die Ecke bogen und sich dem Pfarrhaus näherten.

 »Oh nein, sie haben mich gefunden«, sagte sie leise. »Sie kommen, um mich zu holen.«

»Wer?«, fragte der Pfarrer.

»Die vom Heim.«

»Und was haben die jetzt vor?«

»Die wollen mich zum Schweigen bringen. Bitte, helfen sie mir!«, flehte sie ihn an und glaubte, in seinem Blick von Herzen kommendes Mitgefühl zu erkennen. Doch wie sollte er ihr jetzt noch helfen?

Der Pfarrer machte einen Schritt zurück ins Haus und Lena dachte schon, dass er ihr gleich die Tür vor der Nase zuknallen und sie ihrem Schicksal überlassen würde. Doch das tat er nicht. Stattdessen zog er die Tür ganz auf und sagte: »Schnell, ins Haus mit Ihnen.«

Lena zögerte keinen Augenblick, huschte an dem Pfarrer vorbei ins Hausinnere und folgte ihm durch einen langen, schmalen Flur in die Küche. Es roch nach angebrannten Zwiebeln, an der Wand flackerte in einem Glas eine einsame Kerze, die, abgesehen von dem Bild der heiligen Maria, nur die Umrisse der Küche erkennen ließ.

»Möchten Sie sich setzen?«, fragte der Pfarrer.

Lena schüttelte den Kopf.

»Wie wäre es, wenn Sie mir jetzt erst einmal Ihren Namen verraten?«

»Lena, mein Name ist Lena ... Lena Wieland. Bitte, Sie müssen mir helfen Kevin zu finden, es könnte jeden Moment …«, begann sie, doch ihre Stimme versagte, bevor sie den Satz beenden konnte.

»Ja, Lena, das versuche ich, aber …«

Das laute Schellen der Türklingel brachte ihn zum Schweigen. Jetzt war er es, der entsetzt dreinblickte, während er Lena zuflüsterte, sie solle sich ruhig verhalten, solange er nachsehe, wer da an der Tür sei.

Doch das wusste Lena bereits, brachte aber kein Wort mehr heraus. Sie setzte sich auf den Boden, kauerte sich zusammen und versuchte, so leise wie nur möglich zu atmen, damit sie hören konnte, was an der Haustür vor sich ging. Zunächst waren da nur die Schritte, dann das Öffnen der Tür und zuletzt die Stimme des Pfarrers.

»Herr von Hohberg, was für eine Überraschung«, sagte er. »Was führt Sie mitten in der Nacht zu mir?«

»Ich suche einen meiner Schützlinge, und ich glaube, dieser ist vor zwei Minuten in ihr Haus eingedrungen«, antwortete Christian von Hohberg, den Lena sofort an der eindringlichen Stimme erkannte. Er war der Leiter des Heims. »Eine junge Frau. Ich bin für sie verantwortlich und werde sie jetzt mitnehmen.«

»Sie wirkt ein wenig erschrocken«, sagte Pfarrer Warth. »Ist irgendetwas passiert dort oben?«

»Nein, Herr Pfarrer, es ist nichts passiert. Also?«

Schweigen breitete sich aus, und Lena wurde bewusst, dass der Pfarrer ihr letztendlich doch nicht helfen konnte, selbst wenn er es wirklich gewollt hätte. Sie hörte Schritte, die näher kamen und neben ihr verstummten. Ihr Herz begann zu rasen, sie schaffte es nicht mehr, ruhig zu atmen. Vielmehr fiel es ihr von Sekunde zu Sekunde schwerer, überhaupt noch Luft zu bekommen.

»Ich weiß nicht, ob ich das gut heißen kann. Sie wirkt sehr verstört«, setzte der Pfarrer noch einmal zu einem letzten Hilfeversuch an.

»Machen Sie sich keine Gedanken, Herr Pfarrer, Lena ist immer etwas verstört, aber sie ist bei uns in guten Händen. Nicht wahr, Lena?«

Lena resignierte, es war vorbei. Langsam stand sie auf, stolperte dem Heimleiter entgegen und ließ sich von ihm an Pfarrer Warth vorbei zur Tür bringen. Dort nahm sie einer der Betreuer, dessen Name ihr nicht einfallen wollte, in Empfang.

Bevor sie das Pfarrhaus verließen, blickte Christian von Hohberg noch einmal zum Pfarrer zurück. »Vielen Dank für Ihre Kooperation. Ich wünsche Ihnen noch eine gute Nacht.«

Nachdem Lena auf der Rückbank des Wagens Platz genommen hatte, wurde ihr endgültig bewusst, dass sie in ihren Albtraum zurückkehren würde. Sie konnte absolut nichts dagegen tun. Der Mercedes wendete am Pfarrhaus, und sie sah noch, wie Pfarrer Warth ihr zunickte, und wenn sie sich nicht getäuscht hatte, war ein aufmunterndes Lächeln über seine Lippen gehuscht.